GESCHICHTE & ENTWICKLUNG LAMPAS, GAMS UND SCHNEIDERFLIEGE | GESCHICHTE & ENTWICKLUNG SEITE 15 Wenn sich ein Mann im Jahr 2015 steirisch kleidet, so wird das wesentlich anders aussehen als etwa im Jahr 1915 oder noch weitere 100 Jahre zuvor. Eine Trachtenbeschreibung kann immer nur eine Momentaufnahme sein und wird bei aller Zeitlosigkeit, die man Tracht gerne zuschreibt, zeigen, wie sehr auch dieser Bekleidungsstil Veränderungen und Entwicklungen unterworfen ist. Der lange, mantelartige Haftelrock wich einst kurzen Rock- und Joppenformen, der zylindrische Hut löste die breitkrempigen Regen- und Schattendächer ab, und den Steireranzug sucht man bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vergeblich. Auch der regionale Aspekt darf nicht übersehen werden: Woher kam oder kommt der Steirer, dessen typische Kleidung betrachtet werden soll? Hier waren in der Vergangenheit aufgrund der klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch deutlich mehr Unterschiede – auch in der Kleidung – festzustellen als heute. Mit all diesen Fakten beschäftigt sich seit rund einem Jahrhundert die Volkskunde, die im Umgang mit dem Phänomen Tracht während dieser Zeit unterschiedliche Positionen eingenommen hat. Das Wissen über die Entwicklung der Tracht in der Steiermark und ihre Wertschätzung bis in die Gegenwart verdanken wir mehreren Persönlichkeiten. Eine wichtige Rolle spielte zunächst Erzherzog Johann (1782–1859), der steirische Prinz, der durch seine Kammermaler ein vielfältiges Zustandsbild der typischen Kleidung der ländlichen Bevölkerung seiner Zeit hinterließ und durch sein persönliches Vorbild das Tragen des schlichten grau-grünen Rockes populär machte und damit ein Bekenntnis zu Land und Leuten und zum einfachen Leben ablegte. In dem von ihm gestifteten Museum, dem Joanneum, genauer gesagt in dem 1913 durch Viktor Geramb (1884–1958) gegründeten Volkskundemuseum, erfolgt seit dem frühen 20. Jahrhundert die wissenschaftliche Beschäftigung mit den überlieferten Kleidungsformen und -gewohnheiten der Steirerin- nen und Steirer. An diesem joanneischen Sammlungs- und Ausstellungsstandort in der Grazer Paulustorgasse besteht eine umfangreiche Studien- und Schausammlung, die auch wichtige Elemente und Entwicklungslinien steirischer Männertrachten dokumentiert und illustriert. Besonders im Trachtensaal, einem Ausstellungsraum aus den 1930er-Jahren, wird auf 42 lebensgroßen Figurinen, zum Teil in Rekonstruktionen, zum Teil mit originalen Kleidungsstücken, die Entwicklungsgeschichte menschlicher Kleidung auf steirischem Boden von den ersten Spuren in der Hallstattzeit bis in das frühe 20. Jahrhundert dargestellt. Dieser Trachtensaal wiederum ist untrennbar mit einem zweibändigen wissenschaftlichen Grundlagenwerk – ebenfalls in den 1930er-Jahren entstanden – verbunden, dem »Steirischen Trachtenbuch«, das den damaligen Forschungsstand an unzähligen historischen Beispielen materialreich wiedergibt. Die Vorarbeiten dazu leistete ein außergewöhnlicher Kenner und Sammler der Tracht, durch den Geramb lange Zeit mit Anschauungsmaterial vorwiegend aus dem steirischen Salzkammergut versorgt wurde und mit dem er über Jahre in regem inhaltlichem Austausch zu vielen Fragen der Volkskultur stand: Konrad Mautner (1880–1924), dem Sohn einer Wiener jüdischen Industriellenfamilie, war das AusSTEIRISCHE MÄNNERTRACHT – GESAMMELT, ERFORSCHT UND ERNEUERT VONROSWITHA ORAč-STIPPERGER
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