GESCHICHTE & ENTWICKLUNG LAMPAS, GAMS UND SCHNEIDERFLIEGE | GESCHICHTE & ENTWICKLUNG SEITE 17 zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den steirischen Landregionen auf einem Tiefpunkt angelangt. Vor allem die ländliche beziehungsweise bäuerliche Bevölkerung hatte keine große emotionale Bindung zur Tracht und kleidete sich, wenn es das schöne G’wand sein sollte, gerne nach der Mode der Zeit. In diesem Gewandstil sah man das Erstrebenswerte, das Bessere, Schönere. In städtischen Kreisen dagegen wuchs das Trachtenbewusstsein, stieg die Begeisterung für Kleidungsgewohnheiten, die ebenso wenig die grundlegend eigenen waren wie bei der Landbevölkerung die Vorliebe für modische Konfektionsware. Vor dem Hintergrund dieser gegenläufigen Entwicklung versteht man auch die Worte Gerambs besser, die er im Nachwort zum »Steirischen Trachtenbuch« im Hinblick auf das Ziel der Trachtenpflege und -erneuerung schreibt: »Gewonnen ist der Sieg erst dann, wenn die von der Trachtenpflege neu belebte (…) Landestracht der Städte auch wieder die letzten bäuerlichen Gemeinschaften erfasst haben wird.«1 Ohne die bewusste Lenkung, ohne gestalterische Eingriffe von Theoretikern und Praktikern, von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von Lehrerinnen und Lehrern und auch von Schneidermeisterinnen und Schneidermeistern, ergäbe eine Bestandsaufnahme jener Trachtenformen, die in ihrer Gestaltung auf tradierte Vorbilder verweisen, in der Steiermark im jungen 21. Jahrhundert wahrscheinlich nicht die aktuelle Vielfalt und Bandbreite. Wenn auch der Variantenreichtum der Männertracht mit dem der überlieferten Frauenkleidung zu keiner Zeit Schritt halten konnte und sich das natürlich auch in der Anzahl der erneuerten Trachten zeigt, so sind es doch auch erstaunlich viele Männertrachten oder zumindest Rockformen, die seit den Anfängen einer bewussten Trachtenpflege nach sorgfältigem Studium regionaler Besonderheiten weiterentwickelt wurden und inzwischen bereits wieder zum identitätsstiftenden Gemeinschaftsgut in steirischen Gemeinden oder Kleinregionen geworden sind. Zeitgemäße Schnittformen und zeitgemäße Materialien – das waren immer wieder die Forderungen der Trachtenpflege und der Trachtenerneuerungsbewegung. Es ging und geht also nicht darum, historische Gewandstücke unverändert nachzuschneidern und deren Trägerinnen und Träger 1 Konrad Mautner und Viktor Geramb, Steirisches Trachtenbuch, Bd. 2, Graz 1935, S. 577. Trachtendarstellungen aus dem Buch »Alte Volkskunst – Steirische Trachten« von Gundl Holaubek-Lawatsch, 1983: Hirschegger Anzug (oben) und Rosenkogel-Reinischkogel-Röckl (unten).
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